Landkarte, Kompass und der Sternenhimmel: Piloten im Zweiten Weltkrieg hatten kein GPS und navigierten ihre Flugzeuge wie Seemänner im Mittelalter. Sie hielten das schweizerische Zürich wahlweise für Pforzheim, München oder Straßburg - oder landeten mit Hitlers geheimen Kriegsplänen im belgischen Acker. Von Ariane Stürmer / Spiegel
Der Auftrag war klar, die Ladung tödlich. Die Sterne dienten zur Orientierung, und als das Ziel an jenem Nikolaustag 1942 vor ihm lag, tat der britische Bomberpilot seine Arbeit und klinkte seine Fracht aus. Kurze Zeit später loderte ein heller Feuerschein, die Brandbomben hatten getroffen. Allerdings nicht wie geplant den Rastatter Bahnhof. Stattdessen Wohnhäuser des sieben Kilometer südwestlich gelegenen Iffezheim, einem Dorf mit 2500 Einwohnern und einer Galopprennbahn.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte der Pilot der Maschine noch einmal zurück, diesmal in friedlicher Absicht. Er traf den Ratsschreiber des Ortes und erzählte ihm, dass er an jenem 6. Dezember 1942 den Bomber geflogen hatte, und dass er es war, der einen Lichtschein aus einem der Iffezheimer Häuser für den Rastatter Bahnhof gehalten hatte. Dann entschuldigte sich der Engländer bei dem Deutschen. Die Iffezheimer haben das Ereignis in die Chronologie ihrer Stadt aufgenommen.
Dass Piloten sich verflogen, war im Zweiten Weltkrieg keine Seltenheit. GPS gab es nicht, die Männer flogen meistens nach Sicht. Tags half der Vergleich von Karte und Landschaft, nachts der Sternenhimmel. Zogen Wolken auf, mussten die Navigatoren versuchen, einen Blick auf einzelne freie Fleckchen Erde zu erhaschen, um die Äcker, Flüsse und Berge unter sich mit ihren Karten zu vergleichen. Wer eine Flussbiegung da nicht richtig deutete, kam schnell vom Kurs ab. Ganze Bombenteppiche gingen über Städten nieder, die nie Ziel hätten sein sollen.
Tod eines Superstars
Ungewöhnlich in jeglicher Hinsicht ist, was am 15. Dezember 1944 über dem Ärmelkanal passierte: 139 britische Lancaster-Bomber flogen gerade nach einem wegen schlechter Sicht abgebrochenen Angriff auf das nordrhein-westfälische Siegen heimwärts. Weil eine Landung mit den Bomben an Bord zu gefährlich gewesen wäre, luden die Piloten ihre explosive Fracht über dem Kanal ab. So war es üblich, sagt Ralf Blank, Leiter des Historischen Centrums in Hagen.
Als der britische Flugnavigator Fred Shaw seiner fallenden Ladung nachschaute, sah er ein kleines einmotoriges Flugzeug direkt unter sich. Es war nicht irgendein Flieger, der da in den Bombenhagel geriet, es war jene Maschine, die den Swing-Musiker Glenn Miller zu einem Konzert nach Paris fliegen sollte. Der Pilot der zivilen Noorduyn Norseman hatte sich im dichten Nebel über dem Ärmelkanal verflogen, sagt Ralf Blank. Glenn Miller, sein Pilot und das kleine Flugzeug stürzten in den Ärmelkanal. Sie wurden nie gefunden.
So tragisch der Tod der Swing-Legende war, den Kriegsverlauf hat er nicht beeinflusst - ganz im Gegenteil zu dem fliegerischen Fauxpas, den sich der Luftwaffen-Major Erich Hönmanns mit Hitlers geheimen Westfeldzug-Plänen an Bord seiner Messerschmitt leistete.
Ein fluchender Hitler
Auf dem Kurierflug von Münster nach Köln übersah Hönmanns, dass ihn ein starker Wind über den Rhein ins benachbarte Belgien verweht hatte. Als der Motor seiner Me-108 an jenem 10. Januar 1940 nahe des Städtchens Mechelen aussetzte, rumpelte der Major mit seinem Passagier und Hitlers geheimen Plänen unsanft in einer bruchlandenden Messerschmitt über einen belgischen Acker, statt offiziersgemäß über die Kölner Landebahn zu rollen. Immerhin kletterten die beiden Männer unverletzt aus dem Wrack. Die hochbrisanten Papiere versuchten sie zu vernichten, allein die heraneilenden belgischen Gendarme waren schneller.
Adolf Hitler soll ziemlich laut geflucht haben. Dann aber ließ er sich von seinen Spionen berichten, wie die Alliierten auf das Bekanntwerden der Pläne reagierten. Daraufhin änderte der Diktator seine Taktik und entschied, einen zuvor verworfenen Plan seines Generalstabschefs Erich von Manstein in die Tat umzusetzen. In einem bis dahin für unmöglich gehaltenen Gewaltmarsch trieb Hitler die deutsche Armee und ihre Panzer über die Ardennen. Damit hatten die Alliierten nicht gerechnet, das deutsche Heer überrannte Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich innerhalb weniger Wochen.
Vielleicht hätte Frankreich genauso schnell kapituliert, wenn Hitler den Manstein-Plan nicht angewendet hätte, vielleicht hätte es etwas länger gedauert, vielleicht wäre der Zweite Weltkrieg zu Ende gewesen, bevor er richtig angefangen hatte. Wir werden es nie erfahren. Fest steht nur: Wenn Hönmanns sich nicht verflogen hätte, wäre der Manstein-Plan in der Schublade geblieben.
Terrorkrieg gegen Zivilisten
Nur wenige Monate später, in der Nacht vom 24. zum 25. August 1940, erlaubten sich erneut einige deutsche Piloten einen Navigationsfehler mit historischen Ausmaßen. Bei einem Nachtangriff wähnten sich die Männer über den riesigen Öltanks von Thames Haven oder den Produktionshallen der Stirling-Bomber von Rochester und ließen ihre Bomben fallen. Allerdings sah das bombardierte Gebiet bei Tageslicht betrachtet ganz und gar nicht wie ein kriegstaktisches Ziel aus, sondern wie die Londoner Innenstadt.
Für den Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller markiert dieser versehentliche Angriff auf die englische Hauptstadt den Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges. Denn "bis zu diesem Zeitpunkt waren nur militärische Ziele von alliierten und deutschen Fliegern angegriffen worden", sagt Müller.
Der britische Premier Winston Churchill reagierte prompt auf die deutsche Aggression und jagte 81 englische Bomber über den Kanal in Richtung Deutschland. Doch was die Luftwaffenpiloten nicht konnten, konnten ihre Kollegen von der Royal Airforce kaum besser. Zwei Drittel der Piloten verflogen sich, der Rest bombardierte erstmals Berlin. Der Terrorkrieg gegen Zivilisten begann mit einer Navigationspanne.
Ist das da Dresden? Oder doch Prag?
Manchmal aber terrorisierten sich die Kriegsparteien auch selbst. Das Chaos am Himmel mussten etwa die Freiburger am 10. Mai 1940 teuer bezahlen. Die Stadt wurde zum Ziel deutscher Piloten, die eigentlich das französische Dijon anpeilen sollten. Die gesamte Bomberstaffel aber verfehlte ihr Ziel und nahm kurzerhand das 50 Kilometer entfernte Städtchen Tavaux ins Visier. Eine Mannschaft des Verbandes irrte allerdings weiter über den Wolken umher, verlor den Anschluss an die anderen Maschinen und verflog sich zum zweiten Mal an diesem Tag. Diesmal um schlappe 250 Kilometer. Ihre Bomben trafen die eigenen Leute im eigenen Land.
Freiburg wurde zum Synonym für Kriegspropaganda: Nachdem die Deutschen einige Häuser der Stadt höchstselbst in Schutt und Asche gelegt hatten, behauptete Hitler, die Franzosen hätten Freiburg bombardiert. Mit der dreisten Lüge rechtfertigte das nationalsozialistische Regime Angriffe auf den Nachbarn. Franzosen und Engländer dagegen waren sicher, dass die Deutschen die eigenen Leute absichtlich bombardiert hatten, um damit Front gegen Frankreich zu machen. Deutschland sei ein Ungeheuer, das nicht davor zurückschreckte, den Tod der eigenen Zivilisten in Kauf zu nehmen, so die alliierte Propaganda. Ein Krieg sei unausweichlich, auch wenn der für die Soldaten den Marsch in den Kampf und für Piloten einen Einsatz über feindlichem Land bedeutete.
Aber die Alliierten bombardierten längst nicht nur deutsche Ziele, sondern beispielsweise auch die befreundete Tschechoslowakei. Prag, das aus der Luft betrachtet mit Dresden und dem Städtchen Torgau Ähnlichkeit hat, wurde gleich mehrfach Ziel verirrter Militärs. Am Morgen des 14. Februar 1945 heulten die Sirenen über der Moldaustadt. Die Prager aber beachteten sie kaum. Alarm gab es schließlich ständig. Auch dann, wenn alliierte Flugzeuge von Osten nach Westen über ihre Stadt flogen, um deutsche Ziele zu bombardieren. Diesmal aber warfen 60 Boeing B-17 "Flying Fortress" der 8. US Air Force ihre 152 Tonnen Bomben über Prag ab, das sie für Dresden hielten. 700 Menschen starben.
Schweizer Desaster
Ein ganz anderes Problem hatte die Schweiz, die als einziger unbeteiligter Staat inmitten von Ländern lag, die sich erbittert bekämpften. Doch obwohl die Schweiz neutral blieb, starben auch dort von 1939 bis 1945 mehr als 80 Menschen durch englische und amerikanische Bomben.
Die alliierten Piloten waren zu unfähig, zu übereifrig, mit zu schlechtem Equipment ausgestattet oder alles zusammen, um Deutschland von der Schweiz zu unterscheiden. Ganz abgesehen vom schlechten Wetter, versteht sich. So erklärt der Historiker Jonathan E. Helmreich die Gründe für Bombardements des Alpenstaates. Die Bomberpiloten hielten Zürich wahlweise für Pforzheim, Mannheim, München oder Straßburg, Thayngen für eine Eisenbahnbrücke bei Singen, Chiasso für das italienische Como, Basel für eine deutsche Stadt und Schaffhausen für deutsches Land.
Immer wieder haben die Navigationsfehler Verschwörungstheorien befeuert, nach denen London, Freiburg, Zürich und Prag eben doch mit voller Absicht bombardiert worden seien. Doch Historiker sind sich heute einig, dass die Wahrheit weit simpler war. Die Piloten waren oft junge Kerle, schlecht und schnell ausgebildet, unerfahren und überfordert. Jeder Flug konnte den eigenen Tod bedeuten. Das technische Equipment war vor allem in den ersten Kriegsjahren noch nicht ausgereift, Navigationssysteme wurden erst seit 1943 verlässlicher.